die neujahrsblanksprache der canclerin | 01.01.2021

nur hoffnung, keine zuversicht: phrasen, floskeln, sensationen zur lage der nation.



[english below]

liebe mitblanker*innen und mitblanker,
heute abend, an der kalendarischen wegscheide zwischen zwei pandemischen jahren, spreche ich zu ihnen von der kanzel der systemirrelevanz aus. ich wende mich an sie aus dem herzen der subkulturellen bestie, dort, wo an allen heiligen feiertagen statt vornehmer festtagskleidung sämtliche hüllen fallen gelassen wurden, wo sich auch an den sonnigsten tagen sodom und gomera im staub wälzten und wo technotrompeten und houseflöten 24/7 den abgesang des abendlandes einläuteten. nun sitze ich hier an diesem nicht-ort vor ihnen, auffällig bekleidet und gemäß den vorgaben des thomas-ebermann-instituts für die rückkehr zur normalität umfassend skimaskiert.

als canclerin habe ich die nicht leichte aufgabe, von hier aus auf die gegenwärtige krise zurückzuschauen: immerhin diejenige herausforderung, bei der es erstmals seit dem zweiten weltkrieg wieder auf unser gemeinsames solidarisches handeln ankommt. in streng geheimer kenntnis der historisch-materialistischen situation möchte ich sie daher nicht nur auf die bevorstehende niederlage einstimmen, sondern in dialektischer didaktik auch ein wenig hoffnung stiften, zugleich aber keinesfalls zuversicht verbreiten.
da die meisten von ihnen weder in der rüstungs- noch automobilindustrie, nicht in der fleischfabrikation, an den drehscheiben des globalen güterverkehrs oder in den logistikzentren der umverteilung von unten nach oben und von süd nach nord tätig sind, spreche ich hier zu einem diffusen publikum aus der schattenökonomischen grauzone. aus systemerhaltener weitsicht war es alternativlos, die von ihnen praktizierte sogenannte clubculture bis auf widerruf zu canceln. sie befinden sich in nicht schlechter gesellschaft, denn 2020 wurden eine menge kunst und kultur gecancelt, um das leider nicht ganz vermeidbare sterben für den standort in vertretbare bahnen zu lenken. der wertschöpferische gedanke dahinter war und ist: infektionspirouetten unterbrechen, damit lieferketten halten. lassen sie sich das einmal durch den kopf gehen, ganz ohne aufputsch- oder betäubungsmittel.

liebe mitblanker*innen und mitblanker,
nicht dass sie mich jetzt womöglich missverstehen: an der derzeitigen schließungssituation gibt es in der sache nichts zu beschönigen noch zu kritisieren. dass dieser zustand nicht tanzbar ist, haben wir ihnen seit märz 2020 ausführlich auseinandergesetzt und daran halten wir bis auf weiteres fest. deshalb erspare ich ihnen hier auch jede abschweifung zu querdenkerischem geschwurbel aus stuttgart und den neuen bundesländern sowie der hier aufquellenden backmischung aus völkischen patriotismus, antisemitischen verschwörungstheorien und rechter gesinnung. was ich damit sagen will ist: leute, die corona leugnen, leugnen in aller regel auch den holocaust oder halluzinieren seine wiederholung an den deutschen durch die bill & melinda-gates stiftung.
aber nicht dass wir uns schon wieder falsch verstehen: nationalismus, rassismus und rechtsextremismus sind in deutschland kein randgruppenproblem. versatzstücke rechter hetze, antisemitische stereotypen, chauvinistische und binäre rollen- und geschlechterbilder, homo- und transphobie, autoritäre dispositionen und eine weitgehende übereinkunft, dass es so etwas wie ein abgrenzbares deutsches volk gäbe, sind teil des mainstreams.
ich mache mir über die begrenzte reichweite meiner ausführungen keine illusionen: das bevorstehende wahljahr wird den ein oder anderen flirt mit dem identitätsprojekt der menschenjäger mit sich bringen, und es wird parteiübergreifend ein demagogisches wettrennen darum geben, wer den deutschen opfergang durch die corona-krise am perfidesten in einen politischen sieg verwandeln kann. die lehren aus hanau und die opfer von rassismus werden hingegen keine wahlentscheidende rolle spielen, das kann ich ihnen leichten herzens versprechen.

kein trost ist also, dass wir dieses seuchenjahr bald werden abhaken können, bleiben doch zuviele fragestellungen im frontex hängen, die auch mich aufrichtig besorgen:
wieviele menschen werden noch im mittelmeer und auf dem weg zu den kanaren ertrinken, wieviele im stacheldraht der balkan-route und an der türkisch-griechischen grenze hängenbleiben, wieviele in lagern zusammengepfercht und dehumanisiert, bis menschenrechtliche mindeststandards eingehalten werden,
die demilitarisierung der abschottung durchgesetzt ist, bis deutschlands und europas mauern fallen?

aber hand aufs herz und an die fahne: dass es uns in wenigen wochen generalstabsmäßig gelungen ist, die in aller welt von der pandemie bedrohten deutschen heim ins land zu fliegen (#leavenogermanbehind), sollte uns jetzt nicht durch eine unzulässige ausweitung des solidaritätsprinzips auf der seele liegen. das bestehende wohlstandsgefälle können wir nunmal nur dadurch erhalten, indem wir die anderen auf abstand halten - dazu leisten das mittelmeer, eu-genormte stacheldrahtzäune und unsere einsatzkräfte an der front schier un- bzw. übermenschliches.
die im einzelfall mitunter sicher bedauerliche gewaltätigkeit der verhältnisse repräsentieren ihre ausführenden organe, die unter unseren landsleuten noch immer höchstes ansehen genießen und deren eskalative praxen sich keiner kritischen rechenschaft stellen müssen.
die identifikatorische kumpanei zwischen untertan und obrigkeit ist es, die die mehrheitsdeutschen jede polizei- und uniformkritik als unzulässig abwehren lässt, ich bilde da keine ausnahme.
militär und polizei erledigen mit einiger wonne die drecksarbeit an den außengrenzen und dienen der aufrechterhaltung einer ordnung, die hegemoniale eigentums- und wohlstandsverhältnisse in einer schwankenden welt sichert - koste es was es wolle.
so bleiben ihre diesbezüglichen fragen auch hier absichtlich unbeantwortet:
wieviele einzeltäter*innen passen in eine hundertschaft?
hat die polizei ein rassismus- oder ein latenzproblem?
oder warum das wort des jahres nicht "polizeigewalt" geworden ist?

was uns ohne umwege ins hässliche hessen führt, direkt in den dannenröder forst. die dort mit schwarzgrüner mehrheit durch einen baumbesetzten mischwald gepflügte schneise hat die handlungsfähigkeit polizeilicher räum- und streufahrzeuge zukunftssicher demonstriert wie auch die bereitschaft, schwerste verletzungen unter den klimaschützer*innen in kauf zu nehmen, um einen autobahnstummel auch durch unwegsames gelände zu verlegen.
staatsgewalttätig geräumt wurde im vergangenen jahr auch in berlin die ein oder andere systemirrelevante location. das rotrotgrüne projekt sah sich von den recht- und gesetzmäßigkeiten des freien marktes gezwungen, die verbeamtete afd in uniform gegen das syndikat in neukölln und gegen die liebigstraße 34 in friedrichshain einzusetzen und damit zwei langjährige subkukturelle projekte zu zerstören. ich frage sie an dieser stelle so systemkritisch wie rhetorisch: hätte nicht ein wenig kapitalismus canceln vollkommen ausgereicht?

mit einer antwort muss ich auch hier glücklicherweise passen. ich kann ihnen allerdings versichern, dass eine radikale infragestellung der ökonomischen verhältnisse und der eigentumslogik nicht auf der tagesordnung steht. da können die klimakrise und die verdammten dieser erde noch so nervtötend gegen die türen klopfen: heute leider keine party für euch. stattdessen framen unsere wohlstandsoasen ihre überlebens- und abschottungsstrategien als new green deal oder next level shit, je nach perspektive. und sobald der verteilungskampf um den impfstoff gewonnen ist, dürfen sie ganz gewiss auch wieder zu dieser enthemmenden musik tanzen und sich all ihrer sorgen und klamotten entledigen, als gäbe es kein morgen.

liebe mitblanker*innen und mitblanker,
vielen dank für ihre aufmerksamkeit. in der kapelle meines herzens brennt immer eine wunderkerze für sie. die nadel bleibt in der leerrille, aber die glut glimmt noch zwischen tonabnehmer und dem revoltierenden basso continuo. damit der funke eines tages überspringt und aus präsidial-autonomen worten irgendwann brandsätze gegen das herrschende dunkel werden.

herzlichst, ihre canclerin

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Dear fellow blankies,
tonight, at this calendarial crossroads between two pandemic years, I speak to you from the pulpit of system irrelevance. I address you from inside the heart of the subcultural beast, here, where on all holy holidays, instead of wearing festive garments all covers are being dropped. where even on the sunniest sundays, sodom and gomera were rolling in the dust and where techno trumpets and house flutes played 24/7 the requiem for the occident. now i'm sitting in front of you in this non-existing place, dressed conspicuously and ski masked, according to the guidelines of the thomas-ebermann-institute to facilitate the return to normality
as cancellor, I have the not-so-easy task of looking back on the ongoing crisis from this point: after all, it is the one challenge which calls for our collective solidarity for the first time since world war 2.
in top secret knowledge of the historical-materialistic situation, i would like to not only prepare you for imminent defeat, but also give a little hope in dialectical, didactic ways, while not spread confidence.

since most of you do neither work in the weapons or automobile industry, nor in the meat processing industry; not at the hubs of global freight transport or logistic centers which ensure the redistribution from the bottom to the top and from south to north, i am speaking to a diffuse audience from the economical grey zone.
from a system-preserving point of view, it was inevitable to cancel the so-called club-culture you all are practicing, until further notice. And you are not alone in this, in 2020 a lot of art and culture has been canceled in order to direct the unfortunately unavoidable death of this location into an acceptable direction. the value-creating motive behind this has been and will be: interrupt the infection pirouetting so that supply chains sustain.
think about this, without the influence of any stimulants or narcotics.

dear fellow blankies,
I want to make myself clear: there is nothing to palliate or criticize about the current shut down situation. since march 2020, we have been explaining to you in detail that this state of crisis is nothing to dance to, and we will stand with that until further notice.

therefore, i will spare you any digression into any ‚querdenken‘ shittalk from stuttgart and all the other areas, as well as the brewing of völkisch patriotism, anti-semitic conspiracy theories and right-wing sentiments. what i do want to say is this: people who deny the existance of covid-19 tend to be people who also deny the existance of the holocaust or hallucinate its reocurrance on the germans by the bill & melinda gates foundation.
but let me set this straight: nationalism, racism and right-wing extremism in germany are not a problem of fringe groups. Right-wing hate speech, anti-semitic stereotypes, chauvinistic and binary gender-roles, homophobia and transphobia, authoritarian dispositions and a wide-spread agreement that there is such a thing as a defined german ‚volk‘ are part of the mainstream opinion.

i have no illusions about the limited reach of my statement: the upcoming election year will bring one or two flirts with the identity project of the manhunters, and there will be a demagogic race across party lines to see who will be able to turn the german win, the victimization by the corona crisis, into a political victory the most perfidiously.
the teachings of hanau and the other victims of racism will not play a key role in the elections. I can promise you that.

it is no consolation, then, that we will soon be able to tick off this epidemic year. too many questions remain in the forefront, which sincerely worries me:
how many more people will drown in the mediterranean sea and on the way to the canary islands? how many will get stuck in the barbed wires of the balkan route and at the turkish-greek border, how many are crammed into camps and dehumanized until minimum human rights standards are met, until the demilitarization of the isolation is enforced, until german and european walls will fall?
but hand on heart and to the flag: the fact that we managed to fly all germans endangered by the pandemic home to their country within a few weeks (#leavenogermanbehind) should not weigh on our conscience by an inadmissible interpretation of the principle of solidarity.
the existing disparity in prosperity can only be maintained by keeping the others at a distance - the mediterranean sea, eu-standardized barbed-wire fences and our frontline forces do their most inhumane for that every day.
The, in some cases, certainly regrettable violence of the circumstances
is represented by its executive organs, which are still highly regarded by our fellow citizens and who‘s escalative practices do not have to face any critical accountability at all.
the identificatory cronyism between subject and authority is what makes the majority of germans reject any criticism of police and uniform as inadmissible, and I am no exception in that.
the military and the police gladly do the dirty work at the borders and ensure the persistence of an order which ensures hegemonic property and prosperity in an unstable world - at any cost.
so your questions in this regard intentionally remain unanswered here as well:
how many single offenders fit into a unit?
does the police have a racism problem or a latency problem?
or why has "police violence" not been awarded term of the year?

Which leads us into the ugly county of hessen without detour, directly into the dannenröder forest. the path plowed there through asquatted forest with a black-green political majority, has proved the power of police in a future-proof manner as well as the willingness to accept the most serious injuries among the climate protectors in order to move a highway stub through almost impassable terrain.

last year, one or two system-irrelevant locations in berlin were also evicted by state violence. the red-red-green parties saw themselves forced by laws and regulations of the free market, to send the afd as uniformed officers into the syndikat in neukölln and liebigstraße 34 in friedrichshain, thus shutting down two long standing subcultural projects.

at this point, i ask you, criticising the system as well as rhetorical:
wouldn't a little canceling of capitalism have been enough?
fortunately, I have to pass on giving you an answer here as well.
I can assure you, however, that a radical questioning of the economic status quo and the logic of property ownership is not on the agenda.
the climate crisis and the doomed planet can yell as loud as they want: there is no party for you today.
instead, our oases of prosperity are framing their survival and closing-in strategies as the green new deal or next level shit, depending on your perspective. and as soon as the distribution battle for the vaccine is won, you will certainly be allowed to dance carelessly again and to get rid of all your worries and clothes as if there is no tomorrow.

Dear fellow blankies,
thank you for your attention. In the chapel of my heart, there is always a little sparkler shining for you. The needle remains in the empty groove but the ember is still glowing between the sound pickup and the revolting basso continuo. so that one day the spark can jump over and presidential-autonomous words will become incendiary devices against the ruling darkness.

With kind regards, your cancellor
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